15. Juni 2011 Bericht im Unter-Emmentaler. Von Beat Hugi
Der Vereinspräsident hat einen Vogel
Martin Leuenberger pflegt als Gärtner und Bestatter der Kirchgemeinde den Friedhof und die Gräber von Wasen. In der Gemeinde kennt jeder jeden. Das kann manchmal an die Substanz gehen. Als Präsident des Natur- und Vogelschutzvereins Wasen und Umgebung betreut er zudem die grossen Kolonien von Mauer- und Alpenseglern im Dorf. Das ist ein erholsamer Ausgleich. Beruf und Hobby hat ihm sein Grossvater mit auf den Lebensweg gegeben. Zu beidem findet er im «UE» immer wieder passenden Lesestoff.
Es muss Ende April gewesen sein, damals, 1984. Martin sass als Achtklässler in der Schule, als die beiden Mauersegler immer wieder die Jalousie eines Bürofensters im vierten Stock der Tabakfabrik gegenüber anflogen. Martin Leuenberger kannte sich mit Vögeln bestens aus. Sein Grossvater hatte ihn als dreijährigen Knirps schon mit zur Arbeit auf den Friedhof von Wasen mitgenommen. Er liess ihn vorsichtig in die Vogelnester auf den Bäumen schauen. Er erzählte ihm von den Vögeln beim Kirchturm. Er öffnete ihm Augen und Ohren für die Natur. So wusste Martin Jahre später beim Anflug dieses Mauerseglers sofort, was zu tun war. Er beauftragte in der Pause seinen jüngeren Freund Stefan Finger, für einen Nistkasten zu sorgen. Den durften die beiden noch am gleichen Tag zusammen mit dem Zweitklässler Matthias Flückiger im Schlepptau in der Tabakfabrik installieren.
Im Trio auf Tournee
Martin Leuenberger, jetzt selbst Friedhofgärtner von Wasen, zeigt zum Schulzimmerfenster hinauf: «Mit dem Mauersegler-Paar von damals und meinem Fensterplatz in der Schule hat es angefangen.» Heute wird in der Gewerbeliegenschaft gegenüber kein Tabak mehr getrocknet, und im ganzen Gebäudekomplex sind rund 70 Nistkästen von Mauerseglern bewohnt. Die drei Schulfreunde Martin, Stefan und Matthias leben weiterhin in Wasen. Sie haben die Kästen in den letzten Jahren und Jahrzehnten zusammen mit weiteren Interessierten alle selbst eingebaut. Genauso wie die drüben im Kirchturm. Und jene im Primarschulhaus-Estrich. Oder im alten «Löwen». 1990 wurden die drei für ihre Arbeit mit einem Preis und 600 Franken der Naturschutz-Initiative «Jugend schützt» ausgezeichnet. Sie hielten schon Vorträge weit über die Kantonsgrenzen hinaus, als Martin als Ältester noch nicht Autofahren durfte. «In dieser Zeit las ich im ‹Drogistenstern› eine Reportage über den Lehrer und Ornithologen Emil Weitnauer. Ich hatte zuvor schon sein Buch ‹Mein Vogel – aus dem Leben des Mauerseglers› verschlungen», erinnert sich Martin Leuenberger: «Weitnauer hatte schon in den 1930er Jahren die Höhenflüge der Mauersegler mit einem Ballon und später im Sportflugzeug zu erkunden versucht.»
Mit dem Töffli ins Baselbiet
Gärtnerlehrling Martin aus Wasen i.E. wollte Lehrer Weitnauer in Oltingen im Baselbiet unbedingt kennenlernen. Er schrieb ihm einen Brief, bekam rasch einmal positive Antwort. Martin fuhr in den Sommerferien mit dem Töffli begeistert ins Baselbiet: «Herr Weitnauer hat mir an diesem Tag soviel beigebracht. Ich habe ihm von unseren Plänen erzählt, auch am Kirchturm Kästen zu bauen. Er riet mir dazu, die Kästen gut begehbar einzurichten, um sie jederzeit beobachten und pflegen zu können. Und er zeigte auf der mitgebrachten Foto des Kirchturms oben rechts auf einen Platz und sagte, wenn er mal sterbe, würde er in seinem zweiten Leben als Mauersegler genau hier brüten wollen.» Leuenberger schaut, als sei es erst gestern gewesen: «Emil Weitnauer ist 1989 kurz nach dem Beringen an einem Herzinfarkt gestorben. Stefan, Matthias und ich haben den Plan mit dem Kirchturm umgesetzt. Genau ein Jahr nach dem Tod des alten Lehrers zog ein erstes Mauerseglerpaar bei uns in der Kirche ein. Im Kasten oben rechts!»
Faszinierende Vögel
Heute brüten und leben von Ende April bis Anfang August rund 220 Mauerseglerpaare in Wasen. Sie haben je zwei bis drei Junge. Männchen und Weibchen kommen Jahr für Jahr unabhängig voneinander in den gleichen Brutkasten zurück. Der Mann zwei bis drei Tage vor seiner Frau. Sie kommen nur zum Brüten hier zusammen. Ihre Jungen suchen sich nach einem Jahr auch in Wasen oder der weiteren Umgebung einen geeigneten Brutplatz, brüten aber erst nach dem zweiten Lebensjahr. Sie finden alle nach einem langen Flug von Südafrika nach Wasen im Emmental immer und immer wieder das gleiche Einflugloch. «Unter den Dächern hat es vielleicht 30 bis 40 Löcher mit einem Abstand von 30 Zentimetern nebeneinander, jedes ist gleich gross», sagt Leuenberger, und dass ihn dieser Orientierungssinn jedesmal verblüffe und fasziniere. Oder wenn die Jungen sich nach gut 40 Tagen im Nest einfach durch das Loch in die Luft fallen lassen und fliegen. Wenn es hier wie in einem Bienenhaus tut und macht. Und wenn der Himmel über Wasen abends voll von Vögeln ist, die sich in den Himmel schrauben, bis auf Nadelknopfgrösse – und weg. Was sie da oben auf 2000 bis 3000 Metern Höhe machen, im Flug ausruhen, wirklich nur zum Brüten landen, also erst wieder in einem Jahr in Wasen mit dem Boden in Berührung kommen, ist auch so eine Geschichte, die den Rahmen dieser Zeitungsseite aber aus allen Spalten platzen liesse. Bleibt für heute unbedingt noch festzuhalten: Die drei Mauersegler- und Vogelpioniere von Wasen haben vor bald 20 Jahren, jung wie sie waren, den Natur- und Vogelschutzverein Wasen im Emmental gegründet. Der Verein zählte auf Anhieb 200 Passivmitglieder, die für stabile Finanzen sorgen, und anhaltend 25 bis 30 Aktivisten. Die bauen und betreuen rund 1000 Nistkästen für viele heimische Vogelarten – für die Segler im Speziellen. Sie hegen und pflegen Hecken und Feuchtbiotope. Sie zählen im Herbst am europäischen Zugvogeltag von Hinterarni aus die global vorbeiziehenden Vogelarten oder nehmen alle zwei Jahre lokal den heimischen Bestand an Schwalben in allen Häusern der Kirchgemeinde Wasen auf.
Alpensegler über Wasen
Martin Leuenberger hat zudem dafür gesorgt, dass heute Alpensegler mit weissen Bäuchen über Wasen fliegen. Sie sind fast doppelt so gross wie die Mauersegler. «Also habe ich mit meinen beiden Kollegen Stefan und Matthias damals im Kirchturm zwei erste Einfluglöcher der Kästen entsprechend grösser gebohrt.» Zehn Jahre später zog das erste Paar Alpensegler in Wasens Kirchturm ein. Letztes Jahr waren es 13 Paare. Martin Leuenberger ist stolz darauf: «Wenn ich die Alpensegler am Sommerhimmel fliegen sehe, darf ich schon denken: Das ist mein Vogel.»