10. Oktober 2010 Bericht im Bund.
Zugvögel überqueren Nord-Süd-Achse
Auf der Nord-Süd-Achse herrscht derzeit Hochbetrieb. Nicht wegen des bevorstehenden Durchstichs der Gotthard-Neat-Röhre, sondern weil zurzeit Millionen von Zugvögeln die Alpen überqueren. Einige, wie der Admiral, auf und ab hopsend, als hätten sie alle Zeit der Welt. Andere, wie die Kormorane, in grossen Flugformationen, die Thermik und den Windschatten ihrer Schwarmgenossen ausnutzend. Alle in Richtung Süden fliegend, Tausende von Kilometern von ihrem Sommerbrutplatz weg.
Mit Feldstechern und Fernrohren bewaffnet, versammelten sich am vergangenen Wochenende unterdessen Kenner und Interessierte an über 50 Beobachtungsstellen in der ganzen Schweiz, um dem regen Treiben zuzusehen. Eine davon ist auf der Hinterarnialp, wo der Föhn die Sicht auf die Alpen hinter den Emmentaler Hügeln freigibt. «Da sind wieder zwei», hört man da etwa, «zwei Pieper!» – «Ein Buchfink!», ruft ein anderer, «keiner ruft wie der Buchfink.» «Wie viele?», fragt ein Dritter und setzt gewissenhaft Striche auf seine Liste. Neben den Besuchern sind auch viele Mitglieder des örtlichen Natur- und Vogelschutzvereins Wasen da. Auf dem Tisch mit den Feldstechern stapeln sich ihre Bücher und Karten über Vögel, deren Reiserouten und Lebensräume. Rundherum zeigen Informationstafeln, welche Zugvogelarten derzeit die Lüfte durchqueren. Dem «Fahrplan» von Birdlife Schweiz, welcher demjenigen der SBB verblüffend ähnlich sieht, ist zu entnehmen, dass Anfang Oktober Buchfinken, Ringeltauben, Stare, Mäusebussarde und Wiesenpieper nach West- und Südeuropa ziehen. Ausserdem verrät das schlaue Informationsblatt, dass sie alle Brutvögel sind, zu den Teilziehern gehören – also den Arten, welche zum Teil in den Süden ziehen, zum Teil nicht – und mit weniger als 5000 zurückgelegten Flugkilometern pro Weg zu den Kurzstreckenziehern zählen.
Der Anlass auf der Hinterarnialp ist Teil von Euro Birdwatch. Nebst dem Schweizer Vogelschutz SVS/Birdlife Schweiz organisieren über 100 weitere Partnerorganisationen von Birdlife International auf allen Kontinenten in über 120 Ländern ähnliche Aktionen. Damit sollen im Hinblick auf die Biodiversitätskonferenz in Nagoya (Japan), welche Ende Oktober stattfindet, auch wirksame Massnahmen zur Sicherung der Biodiversität gefordert werden. «Arten, die im Siedlungsraum vorkommen, werden noch lange kein Problem haben», erklärt Markus Krähenbühl, Vize-Präsident des Natur- und Vogelschutzvereins Wasen, «die Verlierer sind die Feuchtgebietarten. Und die Bewohner grosser, ungestörter Waldgebiete.» Viele der Vögel, welche zurzeit in den Süden ziehen, werden ihr Winterquartier nicht erreichen. Zu viele Gefahren lauern unterwegs: Kaltwetterfronten, die Vogeljagd in Südeuropa, welche trotz EU-Verbot nach wie vor gang und gäbe ist, Hochspannungsleitungen, Pestizide, Lebensraumverluste im Winterquartier – beispielsweise weil Feuchtgebiete in Afrika zur Nahrungsmittelproduktion trockengelegt werden – oder durch die Ausbreitung der Wüste. «Da gibt es viele Hindernisse zu bewältigen, bis die Zugvögel tatsächlich da sind, wo sie hin wollen», sagt Markus Krähenbühl, der Hobby-Ornithologe.
Und so wird auf dem Emmentaler Hügel mit 360-Grad-Panoramablick angeregt gefachsimpelt – wie wohl auch an den 55 weiteren Beobachtungsstellen in der gesamten Schweiz an diesem Wochenende. «Faszinierend!», kann man allenthalben hören, und: «Wahnsinn! Dass die den Weg finden.» Wieso viele der vorbeifliegenden Zugvögel wohl alleine unterwegs seien statt im Schwarm, wird diskutiert und weshalb sie denn überhaupt immer hin- und herziehen müssen. All das mit dem Fazit: «Eigentlich sollte man doch viel häufiger in den Himmel schauen.»
Dann bricht plötzlich wieder Aufregung los, im Grüppchen der Beobachter auf der Hinterarnialp. Ein Ringeltaubenschwarm zieht vorüber. Wohin die wohl fliegen? «Mittelmeerraum», tönt es prompt aus den Reihen der Vogelkenner, «wobei, einige fliegen auch nur bis in die Westschweiz.» Die Flugshow ist noch immer in vollem Gang, die Besucherschar immer noch begeistert am Kommentieren. «Da drüben, über der Rauchsäule von Gösgen, ein Bussard!» – «Und gleich darüber drei Schwalben!» Nun, sie haben wohl recht, die Besucher auf der Hinterarnialp. Man sollte tatsächlich öfter in den Himmel schauen. (Der Bund)